Nachruf auf Jack Terry

Wir trauern um Jack Terry

10. März 1930 - 30. Oktober 2022


Eine Fotografie einer Dokumentationseinheit der U.S. Army wenige Tage nach der Befreiung des KZ Flossenbürg Anfang Mai 1945. Das Bild zeigt einen amerikanischen Offizier mit weißen Handschuhen. Es dokumentiert die Ankunft von Major Samuel E. Gray, der die Notversorgung der befreiten Gefangenen sicherstellen soll. Das Foto ist direkt vor dem KZ-Lagertor aufgenommen, ein kleiner Auslass ist geöffnet. Am Rande des Lagertores ist ein Junge zu sehen. Auf der Aufnahme ist er eingefasst zwischen der breiten und dominanten Figur des amerikanischen Offiziers und der baulichen Zwangsarchitektur des KZ: Tor, Pfosten, Baracken. Der Junge blickt direkt in die Kamera, es ist schwer zu sagen, ob schüchtern, hoffnungsvoll, neugierig oder ausdruckslos. Über viele Jahrzehnte war nicht bekannt, wer dieser Junge war, wie er hieß, was sein Schicksal war.

Die Aufnahme ist nicht nur eine dokumentarische Fotografie, sie ist ein Sinnbild für das Leben des kleinen Jungen. Befreit!? An der Schwelle zu einem neuen Leben!? Zu welchem Leben? „Obwohl ich Flossenbürg so schnell verließ, wie ich konnte, hat mich Flossenbürg mein Leben lang nicht verlassen“ so brachte er es später, sehr viel später, auf den Punkt.

Im April 1995 jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg zum 50. Mal. Unzählige Menschen aus aller Welt haben sich auf die weite Reise in den kleinen Ort in der Oberpfalz nahe der tschechischen Grenze gemacht, hunderte Überlebende und noch viel mehr Angehörige. Es ist ihnen innerer Drang, individuelles Bedürfnis und moralische Verpflichtung zugleich, diesen schweren Weg auf sich zu nehmen. Einer von ihnen ist ein drahtiger 65-Jähriger in Begleitung seiner im achten Monat hochschwangeren Tochter: Jack Terry, geboren 1930 als Jakub Szabmacher im ostpolnischen Bełzyce, und Debbie Strand mit dem noch ungeborenen Thomas in ihrem Bauch. Drei Generationen.

Ein erstes Zeitzeugeninterview im Foyer des Rathauses von Flossenbürg. Die Rahmenbedingungen sind der Schwere des Erlebten, der gutmütigen Naivität des Gefragten und der Dramatik des Erzählten nicht im Ansatz angemessen. Doch es ist trotzdem und trotz aller traumatischen Bitternis eine von Anfang an überaus warme und menschliche Begegnung. Das erste Gespräch mit Jack Terry vor über 25 Jahren in Flossenbürg.

Jack Terry will seiner Tochter ein Vermächtnis weitergeben, noch einmal an den Ort kommen, dem er entronnen war und der ihn nie verlassen hat. Er will ihr erzählen von seiner glücklichen Kindheit als Jakub Szabmacher, als jüngster Sohn einer bürgerlichen Familie in einer Kleinstadt in der Nähe von Lublin. Er will ihr erzählen, wie diese glückliche Kindheit abrupt endete: mit dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1939, da war er gerade neun Jahre alt. Er will ihr erzählen, wie er als Zehnjähriger aus dem friedlichen Familienheim in ein mörderisches Ghetto deportiert wurde, beherrscht und terrorisiert von SS-Oberscharführer Reinhold Feix, einem sudetendeutschen Friseur. Feix tötete unberechenbar und völlig willkürlich, auch die Mutter und die Schwester von Jakub, vor den Augen des Kindes. Reinhold Feix wird für seine Mordtaten niemals zur Rechenschaft gezogen werden. All das will er seiner Tochter Debbie auf der Reise nach Flossenbürg weitergeben, und dann wieder in sich verschließen, denn „wie oft kann ich es mir zumuten, die Geschichte meiner vor meinen Augen ermordeten Mutter und Schwester erzählen?“ Aber er muss seiner Tochter Debbie erzählen, auch von seinem Glück - oder war es Tragik – als „arbeitsfähig“ selektiert zu werden. Sein Vater und sein Bruder werden von einem SS-Mann in die andere Reihe gestoßen, er sieht sie nie wieder.

Wie viel Verlust kann ein Kind ertragen? Wie viel kann ein Kind ertragen? Die deutschen Herrenmenschen schicken Jakub Szabmacher zusammen mit tausenden anderen Jugendlichen in das Konzentrationslager Płaszow bei Krakau und von dort in die Salzminen von Wieliczka – heute eine beliebte touristische Attraktion, wo nichts an das Leid der KZ-Häftlinge erinnert. Als „arbeitsfähige“ Nummer wird der 14-Jährige Jakub schließlich im August 1944 in das KZ Flossenbürg deportiert, mit ihm fast 2.000 jüdische Jugendliche aus Polen. Dort wird aus ihm eine neue Nummer: 14086. Der Sommer 1944 ist heiß, die Sonne sengend. Nackt und schutzlos müssen die Neuankömmlinge tagelang warten bis sie den „Arbeitskommandos“ zugeteilt werden. Die Haut platzt ihnen ab, die systematische Unterernährung lässt ihnen die Zähne ausfallen, „wir waren ‚de-humanized‘, buchstäblich ent-menscht“, so pointiert es Jack Terry Jahrzehnte später.

„Der Tag meiner Befreiung war der traurigste Tag in meinem Leben“, sagt Jack Terry immer wieder. „Bis zu diesem Tag ging es nur instinktiv um mein eigenes Überleben. Am Tag meiner Befreiung habe ich realisiert, dass ich völlig alleine auf der Welt bin.“ Amerikanische Soldaten nehmen das Kind sofort mit, sie wenden ihm all ihre Fürsorge zu, päppeln ihn auf, hätscheln ihn, tun alles, um ihn zu re-humanisieren, ihn sein eigenes Menschsein wieder spüren zu lassen. Ein Schlüsselszene gräbt sich dem Kind damals ein. Ein amerikanischer Soldat versucht in Flossenbürg ein verendendes Pferd durch einen Gnadenschuss zu erlösen und wendet dabei seinen Blick ab. „Das war für mich so einzigartig, denn ich hatte bisher nur erlebt, das Uniformierte andere Menschen ohne Probleme und oft mit Freude massenweise erschossen haben – und dieser Soldat konnte es nicht einmal bei einem Tier.“ Jakub versucht sein menschliches Urvertrauen zurückzugewinnen. Dieses Trauma wird ihn lebenslang begleiten. Die amerikanischen Soldaten verkörpern für ihn diese neue Welt, er fasst Vertrauen und gelangt schließlich in die Vereinigten Staaten. Ein US-Offizier bemüht sich um eine neue Familie für den Jugendlichen und so wird Jakub Szabmacher an der amerikanischen Ostküste zu Jack Terry.

Jack genießt alle Fürsorge und Förderung, er macht seine Schulabschlüsse mit Auszeichnung, studiert Geologie und leistet Militärdienst in der U.S. Army. „Es war für mich eine selbstverständliche Pflicht, diesem Land zu dienen, denn ich verdanke ihm alles.“ Als junger Leutnant kommt er 1956 erstmals wieder nach Deutschland. Von Heidelberg aus nimmt er an einer geologischen Exkursion teil. Das Ziel ist Flossenbürg. Doch nicht die Überreste des Konzentrationslagers sind für die Gruppe von Interesse, sondern die Granitformationen. Niemand weiß um Jacks Geschichte. Als einer der Exkursionsteilnehmer auf der Flossenbürger Burg stehend nach dem früheren Konzentrationslager fragt, antwortet der Reiseleiter „Ja, das stimme schon, aber es war nicht so schlimm“. Dieser Satz brennt sich Jack ein, nie mehr will er nach Flossenbürg kommen.

Doch Flossenbürg verlässt ihn nicht. Als Geologe arbeitet er in einem großen Ölkonzern, unter anderem in Venezuela. Dort schrickt er mitten in der Nacht wegen eines schrecklichen Alptraumes auf, eine selbsterlebte Szene auf dem Appellplatz von Flossenbürg. Eine Menge völlig unterernährter Häftlinge stürzt sich auf den Brotkanten eines soeben Gestorbenen. Er kündigt sofort seinen Vertrag und fängt noch einmal neu an, studiert Medizin und wird Psychoanalytiker. „Nach diesem Alptraum wollte ich wissen, wie die menschliche Seele funktioniert. Und was Menschen dazu bringt, anderen Menschen ihr Menschsein abzusprechen.“ Jack Terry wird ein anerkannter Psychoanalytiker in Manhattan, schreibt wissenschaftliche Aufsätze, gründet eine Familie. Fast niemand weiß, dass er ein ehemaliger KZ-Häftling ist.

Aber Flossenbürg verlässt ihn nie. Im April 1995 kommt er noch einmal an den Ort seines Überlebens. Er lehnt diesen Begriff stets ab, denn „ein Teil von mir ist in Flossenbürg gestorben.“ Er spürt, dass er nicht nur mit Interesse, sondern mit Wärme empfangen wird, mit menschlicher Wärme. Das hat er nicht erwartet, das überrascht ihn, das schließt ihn auf, dem öffnet er sich. Flossenbürg bekommt eine weitere Bedeutung für ihn. Jack kommt oft nach Flossenbürg zurück. Nie ist es einfach, aber doch ist es anders. Sein Antrieb ist der paradoxe Wunsch, so hat er es einmal formuliert, „dass etwas bleibt von diesem schrecklichen Ort, der niemals hätte existieren dürfen“. Jack Terry wird ein weithin höchst geachteter Sprecher der ehemaligen Häftlinge des KZ-Flossenbürg. Den Begriff „Überlebender“ lehnt er für sich ebenso ab, wie den des „Zeitzeugen“. Es geht ihm um das Mensch-Sein, es geht ihm um die Menschlichkeit. Er will nicht als Holocaust-Überlebender vereinnahmt werden, sondern Freunde finden und mit diesen seine Erfahrungen teilen. Er findet viele neue Freunde, Weggefährten, Familienanschlüsse. Das war ihm wichtig, nur das. Nicht die Empfänge zu denen er geladen ist, nicht die Ehrungen, die er erfährt, nicht die Bücher, die über ihn geschrieben, nicht die Filme, die über ihn gedreht werden. Dabei hat er auch Enttäuschungen erlebt. „Ich weiß, dass ich von Manchen benutzt werde, aber es macht mir nichts aus“ sagt er manchmal etwas sarkastisch.

Doch es lässt ihn nicht unberührt, natürlich nicht. Das mantra-artige „Nie wieder“ auf den unzähligen Gedenkeiern ist ihm zuwider, es kommt ihm ritualisiert und meist inhaltsleer vor. Die politischen Konsequenzen aus dem Menschheitsverbrechen des Holocaust sind ihm zu wenig konkret. „Die Welt hat nichts gelernt“ ist eines seiner bitteren Resümees. Vor wenigen Jahren bittet Jack Terry darum, sich aus der Funktion und auch aus der Erwartung eines der bekanntesten Überlebenden von Flossenbürg zurückziehen zu dürfen. „I’m holocausted out“, seine pointierte Zuspitzung. „Ich habe genug davon, ich bin jetzt an einem anderen Punkt meines Lebens, bitte respektiert das!“ Er will noch einmal genießen, das Leben, gute Literatur, gute Musik, guten Whiskey, das Rudern auf dem Hudson-River, seine Freunde. In den Armen dieser Freunde ist Jack Terry nach kurzer schwerer Krankheit am 30.10.22 sanft eingeschlafen, so wie es sein Wunsch war.